Das Märchen vom bösen Buben oder Die magische Schatzkiste
Dago wuchs heran, hatte bald eine beträchtliche Anzahl von Schimpfwörtern in seinem Repertoire, tat stets das Gegenteil von dem, was er sollte und prügelte sich mit anderen Kindern. Er brach Streit vom Zaun, wann immer es ging, verschlief ganze Tage und lachte über diejenigen, die fleißig ihrer Arbeit nachgingen.
In seiner Schule bemühten sich alle, aber das Verhalten von Dago wurde immer schlimmer. Die Kinder fürchteten sich, die Lehrerin war verzweifelt und die Direktorin sah keinen Ausweg mehr. So wurde die oberste Schulbehörde von seinem Verhalten in Kenntnis gesetzt. Es kam, wie es kommen musste: Dago wurde in eine besondere Schule für Schwierige geschickt. In dieser Schule versuchte man, ihn zum Guten zu bekehren - zuerst mit gut gemeinten Reden, als das nichts nützte, mit Strenge und mit Strafen. Aber es war vergeblich. Die oberste Schulbehörde berief ihren Rat aus Expertinnen und Experten ein. Doch niemand hatte eine Idee.
Eines Tages jedoch passierte etwas Ungewöhnliches: Eine fremde Lehrerin kam in die Klasse. Sie sah alle Kinder genau an, sah ihnen in die Augen und hielt inne. Sie erkannte den Fluch, der über Dago lag. Wie könnte es gelingen, Dago von diesem Fluch zu befreien? Da fiel ihr die Schatzkiste ein. Könnte darin die Lösung sein? Sie holte diese Kiste, nahm sie unter den Arm, zog eine Karte heraus, studierte sie aufmerksam und bat Dago und die anderen Kinder sich in einen Kreis zu setzen. Sie begann mit den Kindern Spiele zu spielen, die auf den Karten aus der Kiste standen. Manche Kinder waren widerwillig, mache fanden es lächerlich, aber alle waren überrascht - am allermeisten Dago. Eine Stunde verging und der anfängliche Widerstand hatte sich verflüchtigt. Die Kinder lachten miteinander, erfuhren eine Menge darüber, was andere dachten und sahen sich selbst und die anderen in einem neuen Licht.
Die fremde Lehrerin, die ihnen zunächst nicht ganz geheuer gewesen war, kam in den folgenden Wochen und Monaten jeden Tag und bald mochten Dago und seine MitschülerInnen sie und ihre Spiele nicht mehr missen. Als das Jahr zu Ende ging, war jedoch die Zeit für sie gekommen, zu gehen. Auch Dago sollte die Schule verlassen. Er ging hinaus in die Welt und lebte glücklich und zufrieden.
Ob das Märchen so ausging?
Ich weiß es selbst nicht. Wie aber sieht es mit den realen Dagos aus? Und welche Schatzkiste könnte eine reale Lehrerin in ihrem Gepäck haben? Ich denke, es gibt sicherlich in der Realität viele Schatzkisten mit unterschiedlichen Inhalten, jedoch muss jede/-r von uns erst die für sich passende finden. Meine fand ich vor mittlerweile über zwanzig Jahren bei einem Fortbildungsseminar für Darstellendes Spiel und sie ist gefüllt mit Spiel-, Drama- und Theaterpädagogik! Ich habe mich während der gesamten Zeit meiner langjährigen Klassenlehrerinnen-Tätigkeit in diesem Bereich fortgebildet und dabei festgestellt, je mehr man aus dieser Kiste herausnimmt, umso mehr füllt sie sich im Gegenzug: Wenn man beginnt, das eigene kreative Potential einzubringen, wird es mehr und es kommen immer neue Ideen dazu. Die Begeisterung über den ganzheitlich-kreativen Zugang, der durch Theaterarbeit möglich wird, ist mir bis heute geblieben und hat mein Berufsleben nachhaltig verändert und bereichert.
Als ich vor fünf Jahren begann, schwerpunktmäßig mit sozial-emotional benachteiligten Kindern und Jugendlichen zu arbeiten (zunächst in einer Förderklasse, mittlerweile als Beratungslehrerin), erschienen mir einmal mehr die unterschiedlichen Methoden der Theaterarbeit hilfreich und wichtig.
Aber worum geht es eigentlich:
Was möchte und soll man Kindern, über deren Leben "ein böser Fluch" - welcher Art auch immer - liegt, vermittelt? Was sollen sie kennenlernen und erfahren? Ich denke, es geht wohl immer um eine Förderung des Selbstbewusstseins, um In-Beziehung-Kommen mit sich selbst und anderen, um Sensibilisierung der Wahrnehmung, Erweiterung des Kommunikationsverhaltens, nicht zuletzt um Steigerung der Lebensfreunde, u.v.a.m. Es liegt auf der Hand, dass dazu vertrauensvolle, warmherzige Beziehungen notwendig sind. Der Versuch, sozial-emotionale Benachteiligung ein Stück weit auszugleichen und Kinder bei deren Bewältigung zu unterstützen, braucht aber auch Zeit. Zeit, die das Machen von Erfahrungen im geschützten Rahmen zulässt, abseits von konkreten Anlässen und darauf folgender "Zeigefinger-Pädagogik". Gerade Kinder, die uns mit einem extrem schwierigen Verhalten begegnen, möchten und müssen erleben, wie es sich anfühlt, respektiert zu werden und angstfrei auf andere zuzugehen. Die nicht-wertende "als-ob" Situation, die aller Theaterarbeit immanent ist, erweist sich hier als hilfreich.
Ich möchte daher an dieser Stelle ein paar einfach durchzuführende Beispiele aus meiner Schatzkiste vorstellen, die Teil theaterpädagogischer Arbeit sein können bzw. auch als so genannte "Warm-ups" einsetzbar sind. Es empfiehlt sich, für den Anfang Spiele und Übungen mit möglichst niederschwelligem Charakter zu wählen, bei denen sich die Kinder nicht zu sehr exponiert fühlen. Ich habe damit jedenfalls sehr gute Erfahren gemacht.
Assoziationsspiel: Die Gruppe sitzt im Kreis, eine/-r beginnt mit einem Wort, das nächste Kind assoziiert frei ein folgendes Wort usw.
Teamwork: Jeweils zwei Kinder bilden ein Team. Sie ziehen ein Begriffskärtchen (z.B. "Blumentopf"). Nun müssen sie ohne Absprache den Begriff erklären, indem sie abwechselnd jeweils ein Wort sagen und auf diese Weise einen Satz bilden, der den Begriff erklärt. Die anderen Kinder sollen das Wort erraten.
"Lasst uns alle...": Alle bewegen sich frei im Raum. Ein Kind beginnt und sagt: "Lasst uns alle... (z.B. rückwärts gehen)!" Darauf sollen alle anderen begeistert "Jaaa!" rufen und mitmachen, bis spontan jemand anderer einen anderen Vorschlag macht, z.B. "Lasst uns alle in die Hände klatschen!" usw.
Objektspiel: Es wird ein Schauplatz/eine Situation vorgegeben, z.B. "Im Schwimmbad". Die Kinder kommen einzeln ohne vorgegebene Reihenfolge nach vor und bauen sich zu einem Standbild auf, indem sie ihre eigene Rolle definieren. Z.B. "Ich bin das Wasser". "Ich bin der Bademeister". "Ich bin das verloren gegangene Schwimmflügerl" usw. Am Schluss wird das Standbild "fotografiert" (andeuten) und löst sich wieder auf.
Engerl-Teuferl: Hier geht es um Perspektivenwechsel bzw. das Abwägen von Für und Wider in einer bestimmten Situation. Ausgangspunkt ist eine vorgegebene Problemstellung z.B. Zuspätkommen. Es spielen jeweils drei Kinder. Zwei stehen sich gegenüber auf Sesseln, also etwas erhöht, eines ist "Engerl", eines "Teuferl". Dazwischen steht ein Kind in der Mitte auf dem Boden, das nur zuhört. "Engerl" und "Teuferl" bringen nun abwechselnd Argumente für und wider das Zuspätkommen und richten sich damit an das in der Mitte stehende Kind. "Engerl" sagt z.B.: "Zuspätkommen ist unhöflich, du musst einfach früher aufstehen!" Daraufhin "Teuferl": "Am Anfang ist ja noch nicht so viel los in der Schule, bleib ruhig liegen!" usw. Es sollen so viele Plus- und Minus-Argumente gefunden werden wie möglich, auch wenn sie absurd erscheinen. Nach einer Weile können die Rollen gewechselt werden.
Diese Beispiele sind nur einige wenige aus einer reich gefüllten Schatzkiste, die in der Tat als magisch bezeichnet werden kann. Ohne hier auf die jeweils innewohnenden intra- und interpersonalen Erfahrungsmöglichkeiten näher einzugehen sei erwähnt, dass die uns anvertrauten Kinder in der Regel kaum lustvolle Gemeinschaftserlebnisse kennen. Umso wichtiger erscheint es mir, besonders diesen Aspekt als wertvoll zu erachten. Darüber hinaus bieten Spiel-, Drama- und Theaterpädagogik wunderbare Gelegenheiten, den eigenen Erfahrungsschatz im Umgang mit sich selbst und anderen auf lebendige und freudvolle Art zu erweitern.
Mag. Katharina Siebert - Diplompädagogin, Lehramt für VS und SES, Mediatorin, Theater-, Film- und Medienwissenschaften, Beratungslehrerin und Referentin in der LehrerInnen-Fortbildung in Wien