Marco - Wenn der Tod ins Leben einbricht
Von Sorgen und Nöten
Marco besuchte im Schuljahr 2013/14 die 4. Klasse (es ist eine Integrationsklasse) der NMS, an der ich bis Dezember Religion unterrichtet habe. Seither bin ich in Marcos Schule „nur mehr“ als Betreuungslehrerin tätig.
Im November dieses Schuljahres hat mich Marco in einer Religionsstunde gefragt, ob er zu mir in eine Betreuungsstunde kommen kann, da er dringend jemanden zum Reden brauche. Ich habe Marco in den drei Jahren, in denen ich in seiner Klasse unterrichtet habe, immer als sehr liebenswürdigen, wenn auch etwas vorlauten jungen Mann gekannt und geschätzt. Er hat sich mit Hilfe seiner Mutter immer sehr bemüht, gute Leistungen zu erbringen. Gerade in Religion ist mir oft seine soziale Kompetenz aufgefallen.
Die Gespräche mit Marco sind von Anfang an gut gelaufen und er hat mir einfach von seinen Sorgen und Nöten erzählt. Irgendwann hat er beschlossen, dass es jetzt genug ist und sich ganz höflich von mir verabschiedet, sich bedankt, dass ich ihm so geholfen habe – und das war’s dann. Zumindest haben wir das beide geglaubt.
Da sein und zuhören
Als ich in den Semesterferien den Anruf bekam, dass die Mutter von Marco ganz plötzlich wegen ihrer Zuckerkrankreit ins Koma gefallen und dann verstorben ist, war für mich klar, dass ich alles versuchen würde um Marco zu helfen, ganz egal, wie viel Zeit ich dafür brauchen würde.
Als ich nach den Semesterferien sofort am Montag in die Schule kam, war die Klasse bei einem Englischprojekt und die Klassenlehrerin teilte mir mit, dass Marco mit niemandem über den Tod seiner Mutter sprechen wolle. Der Vater sei extra in die Schule gekommen, um das dem Direktor und dem Kollegium mitzuteilen.
Was tun?
In jedem fachlich fundierten Trauerbuch steht zu lesen, dass wir gerade in der ersten Phase der Trauer darauf Rücksicht nehmen sollen, was der/die Trauernde will und die Wünsche unbedingt respektieren sollen. Ich habe rein aus dem Bauch heraus beschlossen, trotzdem in der Klasse vorbeizuschauen, in der das Englischprojekt stattfand um Marco wissen zu lassen, dass ich da sei. Ich habe also geklopft und habe dann einfach gesagt: "Marco, du könntest jetzt zu mir kommen". Und Marco hat seine Schultasche gepackt, den anderen zum Abschied zugewinkt und ist mit mir in den Betreuungsraum gegangen.
Auch mir hat Marco zunächst mitgeteilt, dass er über seine Mutter nicht sprechen will. Allmählich aber haben wir doch hin und wieder über sie gesprochen und es war jedes Mal sehr schmerzhaft für Marco, wir sind auch nur kurz dabei geblieben und haben dann über ganz andere Dinge gesprochen. Er hat sich allen gegenüber geweigert, über seine Gefühle wegen des Todes seiner Mutter zu reden, hat aber zu ihnen gesagt, dass er ohnehin mit mir redet. Bewundernswert war immer sein Wunsch, mit allem allein fertig zu werden, die Klarheit, mit der er artikuliert hat, dass er "da durch muss" und dass es sehr hart ist für ihn.
Gleichzeitig hat er allen, die mit ihm zu tun hatten, das Leben so hart wie möglich gemacht. Weil es für ihn so hart war? Die Wochen nach dem Tod seiner Mutter waren eine regelrechte "Achterbahn" für alle Beteiligten.
Marco probte in vielerlei Weise den Aufstand
Nach der Schule ist er niemals nach Hause gefahren mit der Begründung: "Was soll ich denn da? Wartet ja keiner auf mich". Er hat sich mit recht zweifelhaften Gestalten im Einkaufspark herumgetrieben und über seinen Zigaretten- und Alkoholkonsum schweigt die Geschichte.
Marco, der zuvor in der Schule zwar vorlaut, aber nie wirklich frech gewesen war, probte in vielerlei Weise den Aufstand. Er verließ die Klasse mitten im Unterricht, um eine rauchen zu gehen, er gab total provokante Antworten, vernachlässigte seine schulischen Aufgaben und gab auf vielfältige Weise zu verstehen, dass ihm alles egal war und ihm alle den Buckel runterrutschen sollten.
Ich habe versucht, trotz vielfältiger Klagen seitens der LehrerInnen über ihn, mich einfach auf ihn und das einzulassen, was er gerade besprechen wollte. Er hat mir immer zu verstehen gegeben, dass er sehr wohl weiß, dass er sich daneben benimmt, dass das aber im Moment nicht anders ginge. Dann haben wir fast eine Stunde lang zum Beispiel über die Möglichkeiten gesprochen, den Mopedführerschein zu machen oder über seine Aktivitäten in der Freizeit, wobei ich mir sicher bin, nur die "Spitze des Eisberges" zu kennen.
Kopfzerbrechen macht es mir zeitweise, dass Marco sich beharrlich weigert, mit seinem Vater in Beziehung zu gehen. Seine Mutter war diejenige, die alles für Marco getan hat, sich um ihn gekümmert, mit ihm geredet, für ihn die Kastanien aus dem Feuer geholt hat - der Vater war wenig präsent und wenn, dann gibt es für Marco nur negative Erinnerungen, bis hin zu häuslicher Gewalt.
Ich spüre, dass ich hinsichtlich einer Verbesserung des Vater-Sohn-Verhältnisses nichts erreichen werde, denn Marco ist ein sehr willensstarker junger Mann, wenn er etwas nicht will, dann passiert das auch nicht.
Eine der letzten Betreuungsstunden...
Marco ist seit dem Tod seiner Mutter jede Woche zu mir gekommen. Sehr berührend war eine der letzten Betreuungsstunden. An diesem Tag hatte er anstelle seiner Schultasche eine handgemachte Tasche aus Kaffeeverpackungen bei sich, ausgerechnet goldfarben, also typisch weiblich, würde man sagen. Ich habe ihn irgendwann angeredet und gefragt, ob diese Tasche seiner Mutter gehört hat. Natürlich hatte sie diese Tasche selbst gemacht und Marco hat sie ganz selbstverständlich und mit Stolz getragen.
Vieles, was mit Marcos Trauer um seine Mutter zu tun hat, spielt sich in den Stunden mit ihm zwischen den Zeilen ab. Eine klassische Trauerbegleitung ist es nicht, was ich da mache. Ich biete ihm nur ganz selbstverständlich jede Woche die Möglichkeit, zu kommen, zu reden - und zwar über das, worüber er reden möchte. Und im Laufe der Wochen bekomme ich das Gefühl, dass er wieder Boden unter die Füße bekommt. Seine Ehrlichkeit und Geradlinigkeit, sein Verweigern von faulen Kompromissen, sein Mut und auch sein Einlassen auf die Trauer erfüllen mich mit Respekt. Dass er wieder Boden spürt, hat er übrigens kürzlich selber gesagt.
Den Tod der Mutter gerade in der Ablösungsphase erleben zu müssen, ist zweifelsohne ein traumatisches Erlebnis. Marco hat von seiner Mutter ganz viel mitbekommen und er ist auf einem guten Weg, das zu erkennen und das Beste daraus zu machen. Er hat ab August einen Lehrplatz und ich bin sicher, dass er seinen Weg gehen wird. Seit dem Ende des Schuljahres kann ich Marco nicht mehr begleiten - aber ich hoffe und bete für ihn und ich bin mir sicher, dass auch seine Mutter auf ihn aufpasst.
Ich erzähle das alles, um eine meiner wichtigsten Erkenntnisse zu verdeutlichen: es geht bei solchen Geschichten wohl ganz allein darum, ein Kind oder eine/n Jugendliche/n nicht allein zu lassen, wenn das Leben so richtig schwer wird.
Nachdem Marco diesen Artikel gelesen hat, gab er mir die Erlaubnis ihn zu veröffentlichen.
Christa Recheis-Kienesberger hat mehr als 30 Jahre als Betreuungslehrerin gearbeitet. Es ist ihr auch nach Antritt des Ruhestandes am 1.8.2021 bewusst, wie wichtig es ist, dass Eltern, Lehrer*innen und Schüler*innen Angebote wahrnehmen können, die sie im Schulalltag unterstützen. Sie findet, dass diese Form der Begleitung und Betreuung für manche Kinder erst Lern- und Beziehungserfahrungen im Umfeld Schule ermöglicht.