Teil 1: Die Dynamik von Störungen

Die L ist noch nicht in der Klasse, als die SuS der 7. Klasse ins Klassenzimmer stürmen. Da versetzt Carlo seinem Mitschüler Fabio einen Schlag auf den Rücken. Ist das wirklich so schlimm? Im günstigsten Fall vergisst Fabio den Vorfall. Aber auch andere Verläufe sind denkbar.

Legende: SuS= Schülerinnen und Schüler, S= Schülerin oder Schüler, L= Lehrperson, KG= Kleingruppe

Zwei Männer streiten sich im Klassenzimmer

Stellen Sie sich bitte folgende Situation vor, die ich vor kurzem an einer Schule erlebt habe. Gerade erst drei Tage vor dem Vorfall hat sich Fabio‘s Vater bei der Lehrerin darüber beschwert, dass sein Sohn, den er aus Südamerika adoptiert hat, gemobbt würde. „Sie können Fabio nicht schützen und an der Schule herrscht echter Rassismus“, so lautete da sein Vorwurf an die L. Und welche Dynamik könnte jetzt entstehen?

Am Abend fragt Fabios Vater seinen Sohn besorgt, „wie war es heute in der Schule?“ Da antwortet Fabio den Tränen nahe, „Carlo hat mich wieder geschlagen“. 

Störungen – massiver Aufwand für Lehrpersonen und Schule

Was wenn jetzt der Vater zum Smartphone greift und die L anruft? Und in den nächsten Tagen allen seinen Bekannten erzählt, welche unmöglichen Zustände an der Schule herrschen? Oder Fabio sich weigert, die nächsten Tage in die Schule zu gehen und seine Eltern das akzeptieren? Der Aufwand für die Schule, die Lehrperson und eventuelle Fachdienste ist extrem, um die verfahrene Situation wieder in Ordnung zu bringen. An Zeit, Nerven und Energie. Und selbst dann. Die Chancen diese Situation wieder einzurenken, sind nicht wirklich hoch. Und was, wenn die Schule scheitert?

Die Dynamik von Störungen – ein unterbelichtetes Thema in der Pädagogik

Störungen, so könnte man meinen, wenn man die pädagogische Fachdiskussion verfolgt, sind höchstens ein kleines Missgeschick mit schneller Verfallszeit. Nach kurzer Zeit, so der Tenor, ist schnell wieder alles vergessen.

Das mag noch vor 50 Jahren gegolten haben. Heute haben sich die Zeiten geändert. Die öffentliche Mobbing-Diskussion hat Eltern aufs äußerste alarmiert. Kaum wird ihr Kind in der Schule einmal belästigt, sind viele davon überzeugt, ihr Kind würde gemobbt. Und sofort läuft in ihrem Herzen und in ihrem Kopf eine Horrorvision ab. Nämlich, dass ihr Kind lebenslang durch den Vorfall traumatisiert und in seiner Entwicklung massiv beeinträchtigt wird.

Auf den ersten Blick relativ unbedeutende Schulvorfälle werden so zum Drama. Und für jede Schule extrem schwer zu bewältigen.
Aber, dann muss halt die L schon zu Beginn des Unterrichts im Klassenzimmer sein, könnte man einwenden. Schauen wir uns die folgende Situation an.

Störungen – komplexe Herausforderungen für die L

Die L ist bereits im Klassenzimmer, da stürmen ihre SuS der 7. herein. Da sie sich noch schnell an ihrem Pult auf die nächste Unterrichtsstunde vorbereitet, sieht sie nur noch, dass Fabio am Boden sitzt und weint. Was ist geschehen? Sie geht zu Fabio und fragt ihn. Er sagt schluchzend, „Carlo hat mich geschlagen“. Klar ist sie emotionalisiert, wer kann ihr das verdenken. Derart aufgeladen fragt sie Carlo vorwurfsvoll „was hast du schon wieder gemacht?“ Der spielt natürlich den Unschuldigen, und das gekonnt. „Gar nichts, Fabio hat Yugo-Ficker zu mir gesagt. Soll ich mir das gefallen lassen?“. Was jetzt?

  • Soll die L jetzt wieder zu Fabio gehen und ihn fragen, „stimmt das, Fabio?“
  • Oder soll sie gleich Carlo bestrafen? Und wenn „ja“ wie? Und wie lange wird die Strafe einen wirklichen positiven Effekt haben?
  • Soll sie Fabio auch bestrafen? Und wenn „ja“ wie? Aber der sitzt noch am Boden und weint. „Eigentlich müsste ich ihn doch trösten“, geht es ihr durch den Kopf.
  • Und weil das alles für sie so komplex ist, und außerdem der Unterricht ja auch nächstens weiter geführt werden muss, überlegt sie, „soll ich einfach nichts tun?“ Das wäre nun gar keine gute Idee, dann damit würde sie ihren SuS signalisieren, dass derartiges Verhalten erlaubt ist.
  • Vor lauter Nachdenken und sich um den Vorfall kümmern, hat sie ihre Klasse ganz aus dem Blick verloren. Da ist es inzwischen ziemlich laut geworden. „Erst mal wieder Ruhe herstellen“ fällt ihr ein. Und schon ruft sie laut und aufgeregt, „Ruhe jetzt“. Einige SuS werden ruhiger, andere reagieren kaum. Die SuS erleben eine L, die sich damit schwer tut, auf angemessene Weise für Ruhe zu sorgen. Das hat Konsequenzen für deren zukünftiges Verhalten. Einige der SuS werden in Zukunft die Anweisungen ihrer L weniger befolgen.

Auf den ersten Blick relativ kleine Störungen können erhebliche Wellen schlagen und die L sehr herausfordern. Denn, wenn ein L einmal in bestimmter Weise entschieden hat, dann ist das ein Präzedenzfall für die Zukunft. Auch das zeigt, wie enorm anspruchsvoll der Lehrerberuf ist.

Liste: Die Dynamik von Störungen

  • Auf den ersten Blick unbedeutend erscheinende Störungen können erhebliche Wellen schlagen.
  • Wenn eine L auf störendes Verhalten nicht angemessen reagiert, erleidet sie schnell einen Verlust an Image und positiver Autorität.
  • Die Aktivitäten, die eine L in der Folge einer Störung aufwenden muss, kosten oft extrem viel Zeit, Nerven und Energie.
  • Auf Störungen reagieren stellt meist ein Beziehungsrisiko zu dem betroffenen S dar. Daraus können sich schnell erhebliche Konflikte zwischen Lehrperson und S entwickeln. Und wohin es führen kann, wenn ein S in Opposition zu seiner L geht, wissen wir alle.

Im nächsten Kapitel lernen Sie die für Ihren Unterricht wichtigsten Rituale und Routinen kennen. Damit machen Sie einen großen Schritt hin zu einem geordneten Unterricht.


Christoph Eichhorn ist Schulpsychologe in der Schweiz und Autor zum Thema Classroom-Management. Er arbeitet als Lehrbeauftragter an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz und gibt Workshops, Online-Workshops und hält Vorträge zu Classroom-Management.

 

  • Eichhorn, C. (2015): Classroom-Management: Wie Lehrer, Eltern und Schüler guten Unterricht gestalten. Klett-Cotta. 8. Aufl.
  • Eichhorn, C., von Suchodoletz, A., (2014): Die Klassenregeln. Guter Unterricht mit Classroom-Management. Klett-Cotta, Stuttgart
  • Evertson, C., Weinstein, C. (2006): Handbook of Classroom Management. Research, Practice and Contemporary Issues.
  • Kounin, J. (2006): Techniken der Klassenführung. Waxmann