"Das Stören des Kindes ist ein Beziehungsangebot"
Herr Yazdi, In Ihrem Buch „Junkies wie wir“ treten Sie für neue Bildungsschwerpunkte ein.
In der Schule erhalten die Kinder Bildung, die sie später beruflich verwenden können, oder geisteswissenschaftliche Bildung im Sinne von Altgriechisch, Latein, Philosophie und Psychologie, damit sie „gebildete“ Menschen werden.
Wir brauchen aber beziehungsfähige, also funktionale Menschen. Darauf ist die Schule nicht ausgerichtet. Wenn man auf die Funktionalität achten würde, müsste man schon in den 70iger Jahren die Schule völlig verändert haben. Da hat es schon so viele Erkenntnisse gegeben, über Kinderpsychologie, über Schulpsychologie, über Bindungstheorien … Es gibt so viel Wissen zu dem Thema. Die Schule könnte in der heutigen Form nicht mehr existieren, wenn wir sagen würden, sie hat primär das Ziel, psychisch gesunde und emotional funktionale Menschen heranzubilden.
Vereinfacht heißt das: in der Schule wird den Lehrern nicht gesagt: „Es ist egal, wie viel Lateinvokabeln ein Schüler lernt“ – weil eigentlich ist es ja wirklich egal – „Hauptsache wir haben ihm beigebracht, in Beziehungen zu treten auf positive Weise, seine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, die Bedürfnisse von anderen wahrzunahmen, einen gesunden Abgleich zu machen zwischen seinen Bedürfnissen und denen der anderen.“ Aber das ist alles kein Thema. Ich glaube, dass es viele gescheite Lehrer gibt, die das auch wissen, aber die Schule als System zielt nicht darauf ab.
Im Zentrum Ihres Buches steht das biologische Belohnungssystem. Es schüttet das Glückshormon Dopamin aus, wenn wir besondere Herausforderungen bewältigt haben. In der Schule wird ein Schüler belohnt, wenn er etwas genau so macht, wie es der Lehrer will. Hängt das mit dem biologischen Belohnungssystem zusammen?
Das kann schon zusammenhängen. Belohnungssystem und Motivationssystem haben eine große Schnittmenge auch bezüglich der Hirnteile. Aber wir sprechen jetzt von kurzfristigen Belohnungen. Ich habe einen Einser und freu mich darüber. Drei Tage später ist es nur mehr eine gute Erinnerung. Das gleiche ist ja auch beim Lob. Der Lehrer lobt mich, dann freue ich mich darüber, vielleicht auch noch am Nachmittag, aber drei Tage später wird es nur mehr eine positive Erinnerung sein, wenn überhaupt, wenn ich es nicht vergessen habe.
Das heißt, das eine sind die „Dopaminkicks“, die kommen schnell und werden auch schnell wieder abgebaut, sonst würde man dauerhaft „high“ sein. Und dieses dauerhafte „High-sein“ ist ja ein beeinträchtigter Zustand. Wenn jemand überglücklich ist, kann er ja gar nicht klar denken. Also ist es nicht sinnvoll, dass man sich über ein Lob oder eine gute Note drei Jahr lang freut, weil man dann ja drei Jahre nicht klar denken könnte.
Das andere ist der konstante Spiegel von Dopamin und Serotonin, der mir das Gefühl der Zufriedenheit gibt. Der entsteht durch Beziehung, und die baut ja auf ganz anderen Dingen auf, als auf guten oder schlechten Noten. Man kann zu einem Lehrer, bei dem man durchfällt, trotzdem eine gute Beziehung haben, und man kann zu einem Lehrer, bei dem man lauter Einser kriegt, weil man aus Angst geschimpft zu werden ständig lernt, eine schlechte Beziehung haben.
Die Bindungsforschung sieht einen hohen Zusammenhang zwischen Lernerfolg und Beziehungsqualität zwischen LehrerInnen und SchülerInnen.
Statistisch wird das schon zusammenhängen. Wenn ein Schüler einen Lehrer mag, wird er mehr lernen in dem Fach. Er wird sich auch mehr merken, weil er weniger gestresst ist. Cortisol hemmt ja das Gedächtnis. Das heißt, ich merke mir auch Latein besser, wenn ich in der Lateinstunde nicht gestresst bin. Und gestresst bin ich dann nicht, wenn ich eine gute Beziehung habe. Dazu ein Beispiel aus dem Tierreich: Ein Wolf im Wolfsrudel ist "entstresst". Nehmen Sie ihn aus dem Rudel, dann ist er gestresst, auch wenn gar keine für ihn erkennbare Gefahr droht. Also Beziehung entstresst.
Und natürlich fühlt sich der Lehrer auch wertgeschätzt, wenn der Schüler gut ist, weil er das Gefühl hat, dass das, was er unterrichtet, fruchtet. Aber eigentlich, im ursprünglichen biologischen Sinn, müssen Schulnote und Wertschätzung nicht zusammenhängen. Überhaupt nicht.
Im schulischen Arbeiten sind störende SchülerInnen immer wieder ein Thema...
Ein großes Problem ist das nachvollziehbare Missverständnis, dass Kinder, die stören, keine Beziehung haben wollen. Dabei ist ganz häufig dieses Stören des Kindes ein Beziehungsangebot. Angenommen als Kind fühle ich mich unbewusst nicht wahrgenommen. Ich möchte aber wahrgenommen werden und wenn ich es durch Leistung einfach nicht schaffe, dann muss ich fast auf eine andere Art und Weise auffallen, wenn ich mit der Person in Beziehung treten will. Außer ich will gar nicht in Beziehung treten, dann bin ich ein ganz ruhiger Schüler im letzten Eck.
Das heißt, man müsste das Stören der Kinder per se zuerst einmal als Beziehungsangebot erkennen und verstehen. Das heißt aber auch, dass man ein Beziehungsangebot zurück geben muss. Meistens passiert aber das Gegenteil: Das Kind stört und man geht aus der Beziehung raus. Man sagt: "Du störst, stell dich ins Eck!" - im bildlichen Sinne. Ist zwar jetzt nicht mehr erlaubt, aber das ist ja früher der Klassiker gewesen, oder? Ich gehe also als LehrerIn aus der Beziehung heraus, und das ist eigentlich fatal. Eigentlich müsste es so sein: Du störst, also, du machst mir ein Beziehungsangebot, du willst, dass wir uns miteinander beschäftigen, weil sonst würdest du nicht stören und auffallen. Also beschäftige ich mich mit dir. Ich verstehe, wenn 30 Kinder in der Klasse sind, sind die Möglichkeiten begrenzt. Aber das ist zumindest eine Überlegung.
Die Basis ist die Beziehung und darauf aufgebaut ist das Lernen.
Genau, auch in der Reihenfolge übrigens. Da sind wir uns einig.
Sie berichten von vielen jugendlichen PatientInnen. Wie sehen Sie den Zusammenhang zwischen Schule und Sport?
Es gibt mehrere Punkte. Wir reden hier von schweren Formen der Sucht, sonst würden die gar nicht bei mir landen. Und bei diesen Kindern oder Jugendlichen ist es so, dass es immer zu einem massiven Leistungsabfall in der Schule kommt.
Als erstes verliert das Kind das Interesse, in der Schule überhaupt eine Leistung zu erbringen, weil es die Leistung ja zuhause im Computerspiel bringt. Und die Kinder erbringen da Höchstleistungen, das darf man nicht vergessen. Die konzentrieren sich 10 Stunden lang durchgehend und lösen komplexeste Aufgaben, auch wenn es Aufgaben sind, die mit der realen Welt nichts zu tun haben. Insofern können sie das Gelernte nicht übertragen auf die Realität. Die Kinder verlieren das Interesse, in der Schule Leistungen zu erbringen.
Natürlich ist jedes Computerspiel viel spannender als die Schule, d.h. die Kinder sitzen in der Schule und denken ständig darüber nach: "Wann komme ich heim, damit ich wieder weiterspielen kann". Oder im schlimmsten Fall: "Was kann ich mir einfallen lassen, damit ich nicht in die Schule muss und überhaupt den ganzen Tag spielen kann".
Es kommt auch zum Leistungsabfall aufgrund von Schlafmangel, wenn jemand die ganze Nacht spielt. Oder die Eltern kontrollieren, wann ein Kind ins Bett geht, aber nicht, wann ein Kind aufwacht. Ich habe schon Jugendliche bei mir gehabt, die haben sich den Wecker um drei Uhr früh gestellt, weil sie gewusst haben, da schlafen die Eltern und sie können von drei bis sieben Uhr früh noch Computer spielen.
Und dann gibt es auch soziale Beeinträchtigungen in der Schule, weil man natürlich alle seine Freunde virtuell hat, dann kann es sein, dass man in der Klasse zum Außenseiter wird. Kann sein, muss nicht sein.
Ein weiteres wichtiges Thema ist, dass es im Lehrberuf sehr oft Burnout gibt...
Da müssen wir differenzieren. Ich versuche, jetzt nicht zu zynisch zu sein. Ich habe jahrelang eine Wahlarztpraxis gehabt. Da kommen natürlich ganz viele Leute, die wollen eine Bestätigung für die Verlängerung des Krankenstandes oder ein Gutachten für die Pensionsversicherung, also für die Frühpension. Und da sind viele Lehrer dabei, extrem viele. Und das war dann wirklich so Mode, die haben gesagt: "Herr Doktor, sie müssen mir was schreiben, dass ich in Pension gehen kann". Als Wahlarzt habe ich den Vorteil: die Menschen bezahlen mich nach der Zeit, ich habe keinen Zeitdruck, ich nehme mir ein paar Stunden Zeit und lerne die Leute kennen und komme drauf, der hat gar kein Burnout, der hat den falschen Beruf. Weil offen gesagt, nicht jeder, der ein Lehramt studiert, wird dann glücklich im Lehrerberuf. Da kann er gar nichts dafür. Mit 18 Jahren weiß man ja gar nicht, wie das denn ist, Lehrer zu sein. Man studiert etwas, weil man eine gewisse Vorstellung von einem Beruf hat. Bei den Ärzten ist es ja das gleiche. Es gibt so viele Ärzte, die sollten gar keine Ärzte sein, die sind nicht glücklich in ihrem Beruf. Also man studiert zu einer Zeit, zu der man gar keine echte Vorstellung hat, was das für's Leben bedeutet.
Das heißt, viele Menschen sind einfach unglücklich in dem Job, den sie haben und verwechseln das mit Burnout. Burnout hat jemand, der seinen Job liebt, der sagt, mir gefällt das total, oder zumindest hat es mir sehr lange gefallen. Er hat "gebrannt" für seinen Job. Burn - Burnout - also ich muss zuerst brennen, damit ich ausbrennen kann. Das müssten Lehrer sein, oder auch Ärzte, die eine Zeitlang gebrannt haben für ihren Beruf, die sich weit über den Durchschnitt engagiert haben. Und dann haben sie aus irgendwelchen Umständen, inneren wie äußeren, dieses Feuer verloren, also sie sind ausgebrannt - Burnout. Dann ist die Asche übrig geblieben.
Übrigens, der wichtigste Faktor bei Burnout ist Sinn. Wenn ich subjektiv das Gefühl habe, dass das, was ich mache, sinnvoll ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich Burnout bekomme, sehr gering. Wenn ich das Gefühl habe, es ist sinnlos, was ich mache, und zwar egal, ob die Sinnlosigkeit objektivierbar ist, bin ich Burnout-gefährdet, auch wenn ich gar nicht so viel arbeiten muss. Das ist der Punkt.
Auch Kinder können Burnout bekommen. Es gibt Schüler, die in einem Fach sehr gut sind, zum Beispiel in Mathematik nur Einser haben. Das Fach gefällt ihnen und dann kommt es zu einem Lehrerwechsel und die Beziehung bricht zusammen oder es hat nie eine Beziehung gegeben zu diesem neuen Lehrer. Und so ein Schüler sackt in diesem Fach ab und er wird zu einem der schlechtesten Schüler, es interessiert ihn auch nicht mehr. Das wäre so ein klassischer Fall von Burnout.
Das ist übrigens umgekehrt auch so: wenn der Lehrer von den Schülern nur niedergemacht wird, weil er zum Beispiel Religionslehrer ist und ein 17-jähriger HTLer sowieso keinen Sinn im Religionsunterricht sieht, und der den Lehrer nur fertig machen will. Und vielleicht hat er noch Kollegen, die sagen: "Ich hab die Klasse gut im Griff", weil sie ein "wichtiges Fach" unterrichten, und der Direktor schätzt den Lehrer auch nicht. Dann entwickelt der Lehrer ein Burnout, weil er nie positives Feedback bekommt.
Wenn Sie sich von der Schule was wünschen dürften, was wäre das?
Das, was ich schon erwähnt habe, nämlich dass man den Störfaktor Schüler nicht als Störfaktor erlebt, sondern als Beziehungsangebot. Sogar Kinder, die sich prügeln, machen sich eigentlich Beziehungsangebote. Du kannst mich nur wütend machen, wenn ich mit dir in einer Identifikation bin.
Das müsste ein Lehrer so sehen können, wenn er sich von einem Schüler geärgert fühlt. Ich bin wütend, das heißt ich bin in Beziehung zu dir. Sonst könntest du mich gar nicht wütend machen, sonst wärst du mir nämlich egal. Das ist ein sehr tröstlicher Gedanke. Wenn ein Lehrer nach einer Stunde nachhause gehen kann und sagen: das war eine gute Stunde. Ich habe zwar im Stoff überhaupt nichts weitergebracht, aber es war eine gute Stunde, weil sie voller Beziehung war - wir haben viel gestritten!
Die wichtige Frage ist: Was wäre beziehungstechnisch nötig, dass dieses System blühen kann?
Das gilt nicht nur für die Schule, sondern für alle Arbeitsplätze. Aber in der Schule ist es besonders wichtig.
Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch.
Mag. Andrea Froschauer-Rumpl - Psychologin, Pädagogin, arbeitet seit vielen Jahren als Betreuungslehrerin. War 9 Jahre im Koordinationsteam der OÖ BetreuungslehrerInnen.